Niederösterreichische Arbeitsgemeinschaft offene Jugendarbeit

“Stadt.Land.Zukunft – Jugend, Identität, Perspektiven im Wandel”

Hier findet ihr unseren Reisebericht zum Erasmus+ Fachkräfte-Austausch zu Lebensrealitäten, Chancen und Empowerment von jungen Menschen in Griechenland, geschrieben von einer Teilnehmerin. Teilgenommen haben 16 Jugendarbeiter:innen aus Niederösterreich von Einrichtungen der NÖJA und eine Delegierte des Dachverbandes Offene Jugendarbeit Niedersachsen.

 

„We don´t have to give kids a voice. They already have a voice. We have to listen.“

Diesen Satz hören wir bei der ersten von uns besuchten Organisation – „the smile of a child“. Es ist beeindruckend, dass junge Menschen bei dem von ihnen betriebenen griechischen Kindernotruf niemals länger als acht bis zehn Sekunden warten müssen, während uns österreichische Jugendliche von Wartezeiten bis zu einer halben Stunde bei Rat auf Draht berichten. Gleich am nächsten Arbeitstag nach meiner Rückkunft erzählt ein Mädchen davon, dass sie nach einer Viertelstunde in der Warteschlange bei 147 aufgelegt hat und dass das in einer Problemsituation einfach zu lange ist. Hier wird uns auch gleich bewusst, dass diese große Einrichtung ohne staatliche Basisfinanzierung auch Aufgaben übernimmt, die bei uns staatlich bzw. hoheitlich organisiert sind (z.B. Mithilfe bei der Suche nach vermissten Kindern). „The smile of a child“ hat einige Sponsor*innen – darunter riesige kontroverse Konzerne wie Faceboook, Google, Meta, Instagram, aber auch Child Helpline International, UNHCR, EU, der internationale Notruf und viele weitere. „The smile of a child“ hat eine Vertrauenspartnerschaft (trusted partnership) mit Meta und TikTok. Dies ist uns neu und wir finden es interessant, dass es eine vertiefte Kooperation bzgl. vermissten Kindern, Suizidgefährdung und Cyberbullying gibt. Wir erfahren hier auch, dass aus ihrer Sicht das Kind in Griechenland (wie in vielen anderen Staaten) keine Priorität darstellt in der Politik.

 

Bei der zweiten besuchten Organisation, die von Leidenschaft und Ideen sprudelt, stellen wir fest, dass es in Griechenland keine flächendeckende, öffentlich geförderte Jugendarbeit gibt, die auf gesetzlichen und strukturellen Vorgaben beruht. Hier bei „Hellenic Youth Participation“ werden EU-Projekte umgesetzt, eine staatliche Förderung existiert auch hier größtenteils nicht. Die Projekte sind sehr spannend und wichtig, eine längerfristige Institutionalisierung ist aber aufgrund der fehlenden stabilen Förderung häufig schwierig. Wir sind dennoch begeistert von der Initiative der jungen Menschen in Griechenland. Wir können überaus viel Motivation von Mitarbeiter*innen wahrnehmen. Die nehmen wir uns auch mit nach Hause – dieses Feuer und dass man einfach zupackt, wenn man ein Problem sieht. „The exchange of ideas is the key“ bekommen wir am ersten Tag zu hören und tatsächlich nehmen wir uns auch konkrete Ideen zur Umsetzung mit nach Hause (wie z.B. die Gestaltung eines Escape Rooms zu Menschenrechten).

 

In Athen nehmen wir (besonders in Exarchia) eine politisiertere Jugend als in Österreich wahr und auch mehr selbstverwaltete Projekte als in Österreich. Im selbst organisierten Empros Theater werden wir herzlich herein gebeten und können einer Tanzprobe zusehen. Viele Stadtteile sind gekennzeichnet von einer Vielzahl an Graffitis, die häufig auch auf das Problem des Massentourismus nach Griechenland aufmerksam machen, welche die Preise für die autochthone Bevölkerung in die Höhe treiben und auch für Verdrängung sorgen – „your luxury trip – our displacement“. Wir erfahren auch von verschiedenen Seiten über das Problem der Landflucht in Griechenland, weswegen Offene Jugendarbeit im ländlichen Raum für bestimmte Gesprächspartner*innen unter anderem sinnvoll ist bzw. wäre.

 

Wir sprechen mit einem griechischen Jugendarbeiter, der seine gesamte Tätigkeit ehrenamtlich ausführt und mit vielen anderen Freiwilligen zusammenarbeitet. In Gruppenreflexionen machen wir uns Gedanken zu Beruf und Berufung, aber auch über die Gratwanderung zwischen Eigeninitiative und Selbstausbeutung sowie einer starken Zivilgesellschaft und dem Rückzug des Staates aus der sozioökonomischen Absicherung der Bevölkerung. Wir bewundern das Engagement vieler Einzelpersonen und Initiativen in Griechenland. Gleichzeitig finden wir es wichtig, dass keine Selbstausbeutung stattfindet, weil der Staat die Existenzsicherung und kulturelle Teilhabe nicht zur Genüge gewährleistet. Wir empfinden Dankbarkeit für unser Sozialsystem, das aber auch zunehmend in Gefahr ist und wir erkennen die Relevanz unser erkämpftes Wohlfahrtssystem zu erhalten. In Österreich sind wir auch vermehrt Sparmaßnahmen ausgesetzt. Gerade in Wien sind aktuell große Einschnitte geplant – bspw. Kürzungen bei der Mindestsicherung der Kinder, Streichung der Mindestsicherung für subsidiär Schutzberechtigte, uvm. Obwohl die Situation in vielen Aspekten besser ist als in Griechenland, ist der Sozialbereich nicht gut bezahlt und es gibt wenige Vollzeitstellen. Jugendeinrichtungen in Niederösterreich erleben auch Kürzungen. Es gibt sogar Jugendzentren, denen keine Supervision oder Teamzeit bezahlt wird oder in denen ein*e Mitarbeiter*in alleine im Dienst ist während den Öffnungszeiten. Um ein würdevolles Leben für die Jugend und eine professionelle Offene Jugendarbeit zu verteidigen, sehen wir eine intensivere Vernetzung und Politisierung auf höherer Ebene als relevant an – bei der NÖJA, der BOJA, dem Berufsverband der Sozialen Arbeit sowie auf gewerkschaftlicher Ebene (beispielsweise bei den aktuellen Kollektivvertragsverhandlungen der Sozialwirtschaft).

 

Wir stellen fest, dass Österreich und Griechenland sich grundlegend in ihrem Wohlfahrtsstaat, ihren Steuersystemen und in der Organisation der Jugendarbeit unterscheiden. Österreich bietet ein breites Netz an Sozialleistungen mit relativ großzügigen Sicherungssystemen, während Griechenlands Sozialstaat durch die Wirtschaftskrise massiv eingeschränkt wurde und weiterhin unter europäischen Auflagen und Sparmaßnahmen steht. Wohlfahrtsstaat und Sozialleistungen in Österreich gelten als leistungsfähiger Bismarck’scher Wohlfahrtsstaat mit hohen Sozialausgaben, umfassender sozialer Absicherung (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter) sowie einer relativ niedrigen Armutsquote. Griechenland hatte ebenfalls ein großzügigeres Sozialsystem, vor allem im Pensionsbereich, musste jedoch infolge der Staatsschuldenkrise starke Einschnitte und Privatisierungen hinnehmen. Sozialleistungen wurden und werden durch von der EU, EZB und IWF (Troika) auferlegte Sparprogramme deutlich reduziert. Die Steuersysteme unterscheiden sich stark. In Österreich gibt es einen relativ hohen Anteil an direkten und indirekten Steuern (Lohnsteuer, Sozialabgaben, Mehrwertsteuer). Steuern finanzieren dort maßgeblich das Sozialsystem. Griechenland kämpfte lange mit Steuerausfällen (Schattenwirtschaft, Steuerhinterziehung) und war gezwungen, unter internationalen Auflagen die Steuern stark zu erhöhen (z.B. Mehrwertsteuer, Immobiliensteuer), gleichzeitig aber auch Sozialausgaben zu kürzen. Griechenland hat weder ein einheitliches, institutionalisiertes System noch klar definierte Berufsstandards in der Jugendarbeit. Der Sektor ist fragmentiert und wurde durch die Sparmaßnahmen weitgehend ausgedünnt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, es gibt wenig gezielte staatliche Unterstützung und meist nur punktuelle Projektförderung.

Neben der fehlenden flächendeckenden Jugendarbeit konnten wir feststellen, dass es an weiteren Angeboten fehlt. Uns wurde berichtet, dass es zwischen Gefängnis und Psychiatrie wenig Optionen für Menschen mit psychischer Erkrankung gibt. Einige von uns haben aber auch schon in Österreich, wo es mehr Angebote gibt, mehr als ausgelastete verwaltende Psychiatrien erlebt oder das Fehlen von Angeboten für Menschen, die nicht in den Rahmen passen. Für Menschen mit Behinderung braucht es auch viel mehr Angebote. Besonders im griehischen ländlichen Raum sperren Eltern zum Teil ihre erwachsenen Kinder ein, während sie arbeiten müssen, erzählt uns eine Organisation mit Schwerpunkt Menschen mit Behinderung.

 

Die Grenzen der sozialen Angebote reflektieren wir beim Besuch einer Organisation, die lange für junge Menschen aus Deutschland zuständig war, welche in Deutschland keinen passenden Platz in einer Maßnahme der Kinder- und Jugendhilfe fanden. In der an das Gespräch anschließenden Reflexion stellt sich uns die Frage, wie sehr sich betroffene Menschen in Österreich den häufig spezialisierten, teils sehr hochschwelligen Angeboten anpassen müssen und ob überhaupt im größeren Ausmaß eine Anpassung der Unterstützungsstrukturen an die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen stattfindet. Ein Problemfeld sehen manche von uns auch in der Begleitung für Menschen ab der Volljährigkeit; nicht einmal für care leavers besteht ein Rechtsanspruch.

Bei den Abendgestaltungen präsentieren wir uns gegenseitig Gruppenspiele, die wir in unserem erweiterten Methodenkoffer mitnehmen nach Österreich und in der Jugendarbeit anwenden. Hierzu gehört zB the moon in the spoon, speedfriending sowie weitere Kennenlernspiele Impro-Übungen, Messer & Gabel u.ä. Bei einer Schlussreflexion haben wir die Methode des ehrlichen Mitteilens kennengelernt und ausprobiert. Thematisch bearbeitet wurden in Gruppen auch die Kommunikation mit der Gemeindepolitik sowie gegenseitige Narrative (Jugendarbeiter*innen & Jugendgemeinderät*innen). Hier haben wir auch unser  Repertoire erweitern können – zum Beispiel durch die Kommunkationsform von 5 Punkten mit jeweils 3 Argumente (zB wieso ist Jugendarbeit wichtig? oder: was sind Wirkungen der Jugendarbeit? Punkte wie diese können im Gespräch mit der Politik durch drei Argumente (z.B. Gewundheitsförderung) untermauert werden. Für ein Studienprojekt haben sich Jugendarbeiterinnen für eine Gruppendiskussion zur Verfügung gestellt und hier ihren Umgang mit der Jugend bzgl. rechten Inhalten auf social media mit jungen Forscher*innen diskutiert. Ergebnisse hierzu werden noch veröffentlicht. Die tiefe Vernetzung hat unsere Angebote weiter professionalisiert. Wir konnten verschiedene Arbeitsweisen und Instrumente kennenlernen, die wir gerne voneinander übernehmen – bspw. Konzepte zur Rauschbegleitung in Jugendzentren.

Wir vermuten, dass es seitens der EU weitere Unternehmungen bedarf, um bei EU-Projekten noch mehr Menschen aus benachteiligten Strukturen abseits der Bildungsschicht zu erreichen. Weiters haben wir von einer Organisation gehört, dass manche EU-Gelder von griechischen Projekten nicht abgeholt werden, weil die Antragstellung für sie zu hochschwellig ist. Insgesamt möchten wir Kooperationen mit griechischen Institutionen fortführen oder wie es eine griechische Lehrerin ausdrückt „a cooperation to stay“. Wir bedanken uns für die durch diesen study visit erfahrene Wertschätzung unserer Arbeit. Geschrieben von einer Teilnehmerin.